IX. KunstpatientInnen, KunsttherapeutInnen

Nicht nur Schmerz tut also etwas mit der Kunst, auch die Kunst tut etwas mit dem Schmerz. Sie nimmt ihn, nutzt ihn, transformiert ihn; macht aus ihm ein Symbol, einen Gegenstand, einen Witz; schließlich kann sie ihn verkleinern oder vergrößern nach Belieben, ihn einem anderen anhängen, ihm einen Sinn zuschreiben oder ihn schlicht beseitigen. Auch das Zufügen und das Erzeugen von Schmerz sind, wie wir eingangs gezeigt haben, kreative Phänomene. Aggressives Handeln als eine Möglichkeit von Kreativität zu begreifen, entspräche nach Müller-Mouveé et.al. „der Komplexität von Kreativität (Müller-Mouveé, Daumen & Peez 1993, S. 19). Kunst ist also eine Macht, die sich dem Schmerz gegenüber als stark erweist. SchmerztherapeutInnen wissen dies, KünstlerInnen auch. PatientInnen wissen es in der Regel nicht. Da aber natürlich gerade sie profitieren sollen von der Kunst: Wie schafft man es, diesen Profit möglichst groß werden zu lassen?

Die Antwort könnte lauten:. Der Profit, den PatientInnen vom künstlerischen Schaffen haben, wird da am größten sein, wo es gelingt, sie nicht nur zu motivieren, sondern ihnen kreatives Tun in Anpassung an ihre jeweilige Bedürfnislage (d.i. auch an ihre entsprechende Schmerzphase) zu ermöglichen, Kunsttherapie also in den Status von Selbstbehandlung einzusetzen. Das lohnende Ziel wären Erkrankte, die die Gestaltung ihrer Wahl momentaner Verfassung anglichen, um sich so zu erleichtern, Stimmungen zu steigern oder auch bloß abzuschalten. Kompetente Kranke also, denen ihre Bedürfnisse ebenso vertraut wären wie Möglichkeiten, sie kreativ zu befriedigen.

Nachdem nun aber ahnbar wurde, wieviel die Therapieschulen, die künstlerischen Programme, die Schicksale einzelner KünstlerInnen zur Kunsttherapie des Schmerzes beizutragen haben – kann man überhaupt erwarten, daß die Aussagen von Erkrankten selbst hier noch etwas leisten können? Um so mehr, als sie gewöhnlich Laien sind, unerfahren mit Psychotherapie oder Kunst? Um diese Frage zu bejahen und den Wert zu erkennen, der im selbstwahrgenommenen, gerichteten Bedürfnis von PatientInnen nach kreativem Schaffen liegt, empfiehlt es sich, einen Blick auf die Bedeutung zu werfen, den künstlerisches Schaffen für Schmerzkranke bekommt.

Im Normalfall wird das Gestalten PatientInnen verschrieben als Bestandteil größerer Behandlungspläne. Die Bedürfnissituation wird also nicht erkundet (was mehr bedeutet als bloß „erfragt“), sie wird festgelegt, und das Ergebnis sind meist unmotivierte, der Möglichkeiten ihrer Arbeit unkundige Leidende, die zu begleiten viel Mühe macht.

Kunsttherapie erzeugt bei PatientInnen vor allem zwei Ängste. Die erste ist die, hinterher vertane Zeit beklagen zu müssen. Diese Angst hemmt noch wenig. Die zweite ist schlimmer. Sie richtet sich auf die mögliche Selbstkonfrontation beim Gestalten, und sie tritt häufig auf. Daß nämlich das, was ich geschaffen habe, mit mir zu tun hat, ist nicht zu leugnen. (Entgehen könnte ich dieser Deutung nur durch die noch schlimmere, daß es nichts mit mir zu tun habe, was heißen würde, es käme aus etwas Fremdem. Der Neurophysiologe Detlev Linke schrieb hierzu:“ Schöpferische Prozesse, so weit sie denn von den Tiefen der Seele mitgetragen werden, können als Gefährdung des Subjekts empfunden werden.“ (Linke 1994, S. 165). Tatsächlich fühlen sich manche Patienten beim Malen oder Collagieren mehr als Objekt, als wenn sie bewußt ihre Schmerzen erleiden.) Ich kann es bespötteln oder auf andere Weise herunterspielen, aber meine Urheberschaft abstreiten kann ich nicht. Ich kann sagen, ich könne nicht zeichnen, aber wird mir das nützen?

Aus der Angst vor Selbstkonfrontation heraus bevorzugen viele zunächst das Zeichnen einfacher Gegenstände, reines Abmalen, möglichst noch in exzessiver Detailversessenheit. Auch Idyllen (Kühe auf grüner Au vor hellblauem Himmel) sind ein beliebtes Sujet, das vor Erkenntnis schützt und so den Prozeß blockiert. TherapeutInnen ermutigen dann gern dazu, etwas Neues, Unvertrautes zu probieren. Abstrakte Malerei, Kneten des Tons bei geschlossenen Augen. Wer versiert zeichnet, soll mit Holz arbeiten, und wer gut plastiziert, bekommt einen Pinsel. („Ach herrje, dafür habe ich gar kein Händchen!“ klagte einmal eine Frau, die bereits alle mit ihren ewig gleichen gipsernen Harlekinen genervt hatte, und der die Anleiterin einen Bleistift in die Hand drückte.)

Manchmal wird auch ausschließlich mit Medien gearbeitet, die genaues, „pieseliges“ Zeichnen unmöglich machen, wie zum Beispiel breiten Kreideblöcken, schweren Pinseln, Fingerfarben. Alle diese Vorgaben verhindern ein überstarkes Konzentrieren aufs rein Handwerkliche, das in der Kunst seinen Platz hat, die Therapie aber eher stört.

Therapeuten und Therapeutinnen, die sich so mit Kunst in der Therapie befassen, müssen natürlich ein wenig Kenntnis vom Handwerklichen haben. Sie können sonst nicht unterscheiden, wo jemand sich in einer verzeichneten Darstellung selbst ausdrückt, oder wo es sich um einen auf Unkenntnis und steifer Hand beruhenden „echten“ Zeichenfehler handelt. Auch sind sie bei geringem eigenem Geschick von den Fertigkeiten ihrer KlientInnen „blendbar“. In manchen Gruppen entstehen ausschließlich „schöne“, ornamentale Gebilde, einfach weil sie so gut ankommen. Solche Verstärkungen in der falschen Richtung unterlaufen BehandlerInnen, die selber versiert zeichnen, in aller Regel nicht. Überdies dient handwerkliches Bescheidwissen auch dazu, KlientInnen beim Durchführen ehrgeizigerer Projekte, die manchmal therapeutisch von hohem Wert sind, helfen zu können.

Kann man sich nun darauf verlassen, daß PatientInnen einem schon zeigen werden, was sie gebrauchen können? Ja und nein. Dies ist zunächst sicher eine Frage der Motivation, und diese hängt davon ab, wie gut es gelang, die beiden Ängste, von denen oben die Rede war, zu zerstreuen. Dabei ist die Furcht, Zeit zu verplempern, noch die leichtere Übung, denn hier genügen oft schon Hinweise auf andere PatientInnen, die profitiert haben. Auch Erläuterungen von Dissoziations- oder Flow-Erlebnissen und ihrer Wirkung auf den Organismus helfen weiter. Ist alles erfolglos, dann bleibt immer noch das Muster einer Pascal’schen Wette: Patient oder Patientin „verlieren“ im schlimmsten Fall Zeit, die sie sonst mit Leiden zugebracht hätten. Dafür gewinnen sie im besten Fall ein Schwert und einen Schild, mit deren Hilfe sie den Schmerzattacken begegnen können.

Problematischer ist die zweite Angst, denn sie ist nicht nur häufiger, sondern auch schwerer zu entkräften. TherapeutInnen haben nach gängiger Überzeugung vor allem ein Interesse, nämlich zu deuten und andere zu durchschauen. Die Folge diesen Glaubens ist Reaktanz, und mit Recht. Denn wer gibt schon die Gewißheit, daß hinterher die gewaltsam eingeflößte Deutung auch verdaulich ist?

Selten nur helfen Beteuerungen, man habe kein Interesse am Deuten. Hilfreicher ist es, selber gestaltend mitzuarbeiten, entweder wie alle anderen am eigenen Projekt, oder auch im künstlerischen Dialog mit PatientInnen, wobei BehandlerIn und PatientIn dieselbe Leinwand bemalen oder denselben Block beschneiden. Dabei ist des Behandlers Offenbarung das Signal, daß hier nicht alle nackt stehen müssen, und einer bleibt angezogen. Barrieren fallen schneller, wenn auch die Verfassung des Behandlers oder der Behandlerin künstlerisch ausgedrückt wird. (Dass TherapeutInnen selbst kathartische Prozesse vorführten, ausagierten, Farbtuben auf Holz ausdrückten und mit Messern Nessel zerfetzten, wäre natürlich nur in gut vorbereiteten Gruppen möglich, könnte dann aber unter bestimmten Umständen vielleicht befreiend sein. Nicht zuletzt zeigte es, wie ernst TherapeutInnen selber es mit ihren Methoden meinen.)

Wenn nun die Einstiegsängste überwunden sind, wie zeigen Kranke ihre Bedürfnisse? Kennen sie sie überhaupt? Natürlich kennen sie sie! Allerdings sind sie oft weit davon entfernt, ihre Wünsche ernstzunehmen. Auch glauben sie selten genug an die Heilkraft dessen, was sie selber ersannen. Es muß also eine Anleitung stattfinden, um Wunschäußerung zu ermöglichen. Oder anders: Wir brauchen ein paar Vorschläge, was wir uns realistisch wünschen könnten, ehe wir in der Lage sind, einen Wunschkatalog zu erstellen. Ein Therapeut mag von KünstlerInnen erzählen, Beispiele bringen wie die, die oben genannt wurden. Vielleicht gibt er Motti vor wie das von Beuys, „Zeige Deine Wunde!“. Oder er erwähnt eine Reihe von Möglichkeiten, die in psychotherapeutischen Schulen genutzt werden und läßt wählen, um erste Erfahrungen zu machen. Dabei könnte der Hinweis im Hintergrund mitschwingen, ein jeder und eine jede würden schon herausfinden, was sie benötigten.

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