VI. Der Spiegel der Seele?

Aus der Welt der Kunst Extrakte über Schmerzverarbeitung zu gewinnen bedeutet ein heikles, weil theoretisch nicht geebnetes Gebiet zu betreten. Daher ist es passend, anstatt mit Fakten mit einer einer Anekdote, sowie ein paar Fragen zu beginnen:

Über Giotto wird erzählt, er habe, freihand einen vollkommenen Kreis zeichnend, gesagt: „Das war leicht.“ Darin steckt neben dem Hinweis auf Giottos technische Versiertheit auch ein zweiter, der auf seinere innere Verfassung abzielt. Einen vollkommenen Kreis zu bilden setzt, so stellt man es sich vor, eine vollkommen ausgeglichene innere Verfassung voraus. (Folgt man Jaffé (1968), die mit ihrer Arbeit in der Tradition C.G. Jungs steht, so sind Kreis oder Kugel als Symbole des Selbst und der Ganzheit des Menschen wiederkehrende Gegenstände der Kunst. Somit hätte Giotto als lässiger Zeichner eines perfekten Kreises vermutlich einen Zustand höchster Reife und der vollendeten Individuation erreicht.)

War Giotto also, quasi als Voraussetzung des idealen Zeichners, auch ein ausgeglichener, in sich ruhender Mensch? War die Zeit einfach eine andere, und dies genügt als Erklärung? Heute nämlich, so sagt der Neurophysiologe Linke in einem seiner Essay zum Verhältnis von Neurophysiologie und Kunst, „… wo die Erdkruste weitgehend in den Menschen transformiert ist, muß der Mensch an seiner Zehe nagen, um noch die Figur des Kreises erzeugen zu können.“ (Linke 1996, S. 179). Hätte Giotto, um die Überlegung weiterzuspinnen, den Kreis auch so perfekt zeichnen können, wäre er ein an chronischen Schmerzen Leidender gewesen? Oder war eventuell das Zeichnen des Kreises sogar ein Weg, um Leiden hinter sich und in der Gestaltung vollkommener Figuren verschwinden zu lassen?

AutorInnen wie Dreifuß-Kattan (1986), die die Funktion von Kunsttherapie besonders in der Wiederherstellung einer beschädigten Identität sehen, würden die letzte Frage vielleicht bejahen. Otto Rank, der, obwohl Psychoanalytiker, sich in seiner Auffassung von Kunst und von KünstlerInnen von der gängigen Analyse absetzt, sieht Kunstschaffende dagegen als heroische Figuren, die einerseits wie NeurotikerInnen ihre Wünsche dem gesellschaftlichen Mittelmaß nicht angeglichen haben. Andererseits aber, besser als die Neurosekranken, gestalten sie ihre subjektiven Vorstellungen und Erfahrungen auf eine Weise, die den „Normalen“ (welche durch Verleugnen und Verdrängen ihren Kompromiß zu halten suchen) ein Angebot zu neuer Sichtweise macht und zugleich demonstriert, daß es bei genügendem Willen zur Selbstaktualisierung Wege jenseits von Neurose und Verleugnung gäbe (Rank 1907).

Wie passt nun dies Bild, das Rank entwirft, zu dem vollkommene Kreise bildenden Giotto? Und lässt sich von der Theorie des einen, aus dem Beispiel des anderen etwas gewinnen für die Kunsttherapie des Schmerzes? Vielleicht ja. Doch wird es dafür notwendig sein, einen näheren Blick auf das Gestalten von Schmerz zu werfen, so wie es sich in Kunstgeschichte und Gegenwart und am Beispiel Einzelner präsentiert.

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