X. Betroffenenbedürfnisse

Was aber wünschen sich nun Schmerzleidende in der Kunsttherapie? Welche Richtungen schlagen sie ein, und welche Signale teilen dies mit? Die Antwort lautet selbstverständlich, dies sei individuell verschieden. Doch werden alle, die kunsttherapeutisch arbeiten, die Erfahrung gemacht haben, das PatientInnen irgendwann Dynamik entwickeln, Zeichen setzen und Hinweise geben. Es lohnt sich, solche Zeichen zu sammeln, denn sie gehen über die Theorie hinaus, dadurch daß sie von innen, aus der Schmerzwelt heraus gesendet werden. Ich habe im folgenden einige Beispiele, die ich so oder ähnlich erlebt habe, aufgeführt, um Zeichendialog und Erkennen von Bedürfnislagen im Therapieprozeß anschaulich zu machen.

Beispiel 1: „Das Bedürfnis, die Schönheit der Welt zu erfahren“.

Ein kaufmännischer Angestellter, Mitte vierzig, sehr religiös, malt idyllische Aquarelle („Boote an Steegen“, „Blühende Apfelbäume“, u.s.w.). Er sagt dazu: „Herr Milzner, wenn ich Gottes schöne Welt male, dann existiert der Schmerz nicht für mich. In diesen Momenten bin ich felsenfest davon überzeugt, daß die Welt in Ordnung ist, und auch danach noch bin ich ruhiger und hadere nicht mehr mit meinem Schicksal.“.

Beispiel 2: „Der Wunsch, den Schmerz zu verändern“.

Eine junge Frau, Schülerin an einem Abendgymnasium, entwickelt Freude daran, ihren Schmerz verdinglicht zu malen und dann etwas mit ihm zu tun. Es kann sein, daß sie ihn als grünen Wurm darstellt, um ihm dann weiche, pinselige Haarbüschel zu malen, liebere Augen, oder auch eine Sprechblase, in der „Entschuldigung, ich meine es nicht böse.“ steht.

Beispiel 3: „Der Wunsch, einen schönen Körper zu haben“.

Eine Lehrerin, 42 Jahre, erzählt, sie male sich selbst nun als Akt. Es gebe ihr ein befriedigendes Gefühl, den Körper, von dem sie sich sonst gequält fühle und den sie als marode empfinde, in seiner Ästhetik darzustellen. Sie beruhige sich dann über sich selbst, denn sie erfahre dabei, daß ihr Körper angegenhm modelliert sei, erotisch anziehend und sportlich.

Beispiel 4: „Das Bedürfnis nach Selbstrelativierung“.

Der etwa fünfzig Jahre alte Redakteur, begeisterter Leser von populären Wissenschaftsmagazinen, malt stets anspruchsvolle Szenarien, das Innere eines Atoms oder die Planetenbahnen. Sein Kommentar dazu lautet, das Gigantische (die Planetenbahnen) oder das feinst Ausgebildete (das Atom) erwecke in ihm einen Eindruck von Unbedeutenheit. „Ein Staubkorn im Weltall, Herr Milzner, aber es jammert über seinen Rücken. Dumm, nicht wahr?“

Beispiel 5: „Die Suche nach Identität“.

Lars, sechzehnjähriger Schüler, leidet unter chronischem Spannungskopfschmerz. Beim Malen entwickelt er die Neigung, unterschiedliche Rollen für sich auszuprobieren und malt sich als Seemann, als Professor, als Sportler. Einmal, übermütig, auch als Yogi-Bär, der sich aus einem geklauten Picknickkorb bedient.

Beispiel 6: „Das Bedürfnis nach Sinn hinterm Leid“.

Eine Ärztin, zum Zeitpunkt des Malens sechzig Jahre, schenkt mir eine in ocker und gelb gehaltene Landschaft, aus der sich bei näherem Hinsehen eine Kreuzform schält. Die Form ist ihr selber nicht bewußt geworden, als ich sie aber anspreche, erklärt sie spontan: „Ich kapiere. Da ist viel dran. Ein wenig sehne ich mich wohl in der Tiefe nach einer Nachfolge Christi und hoffe, daß meine Qual göttlich begründet ist.“

Die Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, wie vielfältig die Palette von Möglichkeiten der Kunstschmerztherapie ist, die PatientInnen für sich entdecken. Ein Teil der benannten Prozesse wäre nach den psychotherapeutischen Modellen, mit denen wir zu arbeiten gewohnt sind, kaum angewandt worden, so vermutlich Beispiel 4. Dennoch unterliegt es für mich keinem Zweifel, daß dieser Prozeß therapeutischen Wert besaß.

Fraglich bleibt, ob ein Sammeln solcher Prozesse wirklich Sinn macht für eine Kunst-Schmerztherapie. Besteht nicht die Gefahr, einerseits auszuufern und hinterher eine enorme Materialsammlung veranschlagen zu können, andererseits daraus weder Indikationen noch jene eigenständige Theorie bilden zu können, unter deren Fehlen die Kunsttherapie leidet? Ist es nicht genug, selber den Sensus zu entwickeln für das, was PatientInnen brauchen? Wofür dann noch Berge Papier?

Alle diese Bedenken sind angebracht, denn die Gefahr der Ausuferung droht ebenso wie die, daraus hinterher nicht genug Theorie entwickeln zu können. Sicher ist aber auch, daß umfangreiches, qualitativ gesichtetes und faktorenanalytisch angegangenes Material von PatientInnen eine der wesentlichsten Quellen ist, über die wir verfügen, und wer hätte je Therapie gelernt, ohne die Bedürfnisse der Leidenden kennenzulernen? Es verhält sich also auch hier nach Art der Pascal’schen Wette: Schlimmstenfalls haben wir bloß viel Material zusammengetragen, für das wir neue Verwendung suchen. Und bestenfalls haben wir Versatzstücke für eine handfeste Theorie der schmerzbezogenen Kunsttherapie.Was zuletzt die Notwendigkeit betrifft, die eigene Empfindsamkeit für PatientInnenbedürfnisse zu schulen, so ist diese eine Selbstverständlichkeit. Eine jedoch, die nicht darüber hinwegtäuscht, daß man von manchen Bedürfnissen erst erfahren muß, um sie später wahrnehmen zu können.

Kategorien: Studien