Die Sichtweise, die ich hier andeute, tendiert ihrer Natur nach dazu, die Schizophrenie zu verkitschen. Diese erscheint dann als das Große, Gute, Würdevolle und Wahre, welches zweifellos auch in ihr steckt, sie aber nicht völlig ausmacht. Eine solche Sichtweise wäre ebenso unsinnig wie die, die in ihr allein das Ferne, Düstere, Bedrohliche und Gestörte sieht. Schizophrenie ist, neben jener Lockerung der psychischen Funktionen, von der wir eben sprachen, auch eine Art „Welt neben der Welt“ – der normalen ähnlich, aber eben nur ähnlich. Für den, der sie betritt, ist sie voller Fallen, und man tut gut daran, die Normalität einmal probeweise zu verlassen, wenn man sich mit ihr beschäftigen will

Wie weit kann man die Normalität verlassen, ohne sich ihr gänzlich zu entfremden? Vielleicht ist dies am ehesten da auszubalancieren, wo wir mit dem Unnormalen ein bewußtes Spiel treiben, ein Experiment, ähnlich den unter kontrollierten Bedingungen durchgeführten Drogenexperimenten, welche uns andere Zustände zu erschließen erlauben, ohne uns doch von unserer Bezugswelt komplett abzuschneiden. Besonders eindrucksvoll hat dies Spiel Ronald D. Laing beherrscht, der in den 60er Jahren eine Theorie der Schizophrenie formuliert hatte, nach der Erkrankte aus einem unmöglich gewordenen familiären Konfliktfeld in die Schizophrenie hinübergingen wie in ein anderes Zimmer. Sie sprächen nun mit uns aus einer anderen Zone, gleichwohl aber seien alle von ihnen berichteten Erfahrungen echt und für voll zu nehmen (Laing 1964). Kurz vor seinem Tod gab Laing ein Interview, worin er den Journalisten freundlich aufforderte, mit ihm, einen Drink in der Hand, in den Swimming-Pool zu steigen und dort Blues zu singen… Ich habe einmal Teile des Interviews gezeigt bekommen (kenne jedoch leider weder den Namen des Interviewers, noch den ausstrahlenden Sender, noch den Zeitpunkt der Produktion), und für mich besteht kein Zweifel daran, daß Laing seine Aufforderungen an den Interviewer als Aufforderungen zu wirklichem Miteinander-Sein verstand. Ich hatte sogar den Eindruck, daß der Interviewer dies begriff, denn tatsächlich sang er, und Laing patschte im Takt aufs Wasser und fiel in raunendem Singsang mit ein. Hat Laing uns aber damit auch ein Zeichen für die Weise gesetzt, in der wir mit Schizophrenen kommunizieren könnten?

Ebenfalls in einem Fernsehinterview erklärte der Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau, ein Dichter sei „die verlängerte Hand des Schizophrenen, den jeder in sich birgt.“ (zitiert nach der Fernsehdokumentation „Jean Cocteau – Lügen und Wahrheiten“ (1996) von Noel Simsolo). Lesen wir dies ein wenig anders, so können wir auch sagen: Der Dichter (oder der kreative Mensch) kann der Bote sein, welcher zwischen dem Schizophrenen in uns und der Außenwelt um uns vermittelt. Der Schizophrene vor uns ist jener, welcher aus dem Schizophrenen in sich nicht zurückfand in die Normalität. Aus eigener Kraft scheint es ihm auch weiterhin nicht zu gelingen, und so ist er uns fremd. Wir gleichermaßen sind zunächst ihm Fremde, sind die „Äußeren“ oder die „Normalen“. In dieser Position schert uns der Schizophrene in uns wenig, die Normalität um uns viel – soviel, daß wir imstande sind, stundenlang über Fußball zu diskutieren oder über die beste Art, Paprika in Öl einzulegen. Wo wir nun das Kreative in uns anstoßen, da wird diese Normalität langsam weniger bedeutsam – vermutlich ungefähr in dem Grad, wie unser kreatives Handeln noch in Bezug zu normalen Verrichtungen steht. Produktdesign ist kreativ, aber der Normalität nahe, daher dem schizophrenen Zustand noch eher weit entfernt. Freie Malerei hingegen beginnt, den Bezug zu normalen Größen zu verlieren und sich an inneren Erfordernissen zu orientieren. Ähnliche Unterschiede gelten für die Unterschiede von Tanzmusik zu experimenteller Musik oder von essayistischen Texten zu assoziativen Wortgebilden. Vermutlich liegt im Risiko der Entfremdung auch ein Teil der Verachtung begründet, welche freie Künstler den Auftragskünstlern in aller Regel zollen – und ebenso die, welche manche Überangepaßte den „durchgeknallten Musiker“ und seinesgleichen fühlen lassen.

Wo Therapeuten bereit dazu, womöglich gar darin erfahren sind, die schizophrenienahe Zone der Kunst zu betreten, da haben sie eine einzigartige Möglichkeit, mit Schizophrenen zu kommunizieren. Ist dies erst erreicht, dann ist der Therapeut prinzipiell imstande, in kleinem Rahmen und bei jedem Kranken neu die Position einzunehmen, die Cocteau dem Dichter zuschreibt, und Verständnis zwischen Schizophrenem und Normalem anzuregen. Bei einiger Erfahrung in diesem neuen Metier könnte er hin und her – freilich immer in dem Risiko, von dem wir oben sprachen, nämlich den Zugang zur Normalität vielleicht fragwürdiger, zumindest aber verändert zu finden. Von diesem Standpunkt aus besehen, sind die berühmten Psychologen- oder Psychiater-Witze („Diplom-Pychopathen“ heißen wir bekanntlich bei manchen) vermutlich zwar krasse, aber nichtsdestoweniger wahre Wiedergaben von erlebter Wirklichkeit. Immerhin haben jene, die dort als Witzgestalten auftreten, etwas versucht, was für das normale Denken weit von seiner Vorstellungskraft entfernt liegt – und was auch gelingen könnte, vorausgesetzt, der zum schizophrenen Storch gewordene Kalif Therapeut vergißt sein „Mutabor“ nicht…

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