VI. Die „Self-Relations-Psychologie“ nach Stephen G. Gilligan

Das Grundmotiv dieser Herangehensweise ist, wie der Name sagt, die Selbstbeziehung. Gilligan nimmt an, daß es in jeder Persönlichkeit neben dem vertrauten „Selbst“ („self) noch andere „Selbste“ („selves“) gibt, welche auf das Fühlen, Denken und Tun Einfluß nehmen. Oft werden sie als „Störungen“ wirksam, d.h. sie stören unseren gewohnten Lebensrhythmus, welcher sich unter anderem auf die implizite Überzeugung gründet, wir seien in der Lage, unsere Gefühle zu kontrollieren. Jeder Versuch, diese Störungen zu ignorieren, etwa, weil einem die eigene Vielfalt unheimlich ist, fruchtet nicht, da es a) eine Mißachtung wesentlicher persönlicher Züge bedeutet und b) jede Störung den Charakter einer immerfort wiederkehrenden Trance hat, die nicht abgewiwsen werden kann und nur veränderbar ist dadurch, daß man in ihr arbeitet, oder aber etwas in sie hineingibt. Wir sind also nach Gilligan nicht in der Lage, Gefühle als unser Eigentum zu behandeln, auch wenn wir im Kapitalismus diese Haltung immerfort nahegelegt bekommen. Gefühle sind noch nicht einmal unsere persönlichen Hervorbringungen, wie es in der Kognitiven Therapie nahegelegt wird, wenn es dort heißt, jedes Gefühl sei ein Produkt von einem Ereignis und einer Denkweise und könne durch Änderung der ersten wie der letzteren verwandelt werden. Gilligan bestreitet dies und schreibt den „Selbsten“ mit ihrer emotionalen Kraft eine Autonomie von meinem jetzigen, heutigen Denken und Wollen zu.

Wie kann nun mit einem „Selbst“, welches sich immerfort meldet und Probleme schafft, verfahren werden? Hierfür gibt Gilligan verschiedene Hinweise, die ich versuchen will, in ein Modell zu integrieren. Zunächst nimmt er an, daß es „Selbste“ unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Reifegrade gibt, ähnlich wie es „Ego-State-Therapie“ und Transaktionsalanyse unterstellen. So ist es etwa möglich, daß in einer immer wiederkehrenden, angstbeladenen Trance sich ein frühes Trauma zeigt. Das Kind, das ich war, bin ich im entsprechenden „Selbst“ immer noch. Dieses „Selbst“, welches nun auf der entsprechenden Altersstufe hilflos kreist und auf Rettung hofft, kann mit dem Rest meiner Person nur über Symptombildung Kontakt aufnehmen. (Wobei der Ausdruck „Symptom“ hier im Grunde schon falsch erscheint, denn jede Symptomatik ist ja hier ein Ereignis, ein Notstand, eine ungestillte Bedürftigkeit.) Um die Symptomtrance aufzulösen und mit dem entsprechenden „Selbst“ therapeutisch zu arbeiten, kann ich in ein anderes, reiferes „Selbst“ hineingehen und von hier aus zu dem verwundeten eine Beziehung herstellen. Dergestalt würde etwa ein erwachsenes „Selbst“ sich zu dem verängstigten hinwenden nd es an seinen Erfahrungsschätzen, seinen Möglichkeiten des Trostes Anteil nehmen lassen, um so genau das zu bewirken, was seinerzeit nicht möglich war, als das „Selbst“ aus einer Kränkung heraus ein autonomer Zustand wurde, der wie ein fliegender Holländer auf der See in meiner Seele kreiste und nach Erlösung suchte.

Therapie im Sinne der „Self-Relations-Psychology“ hat zwei Aufgaben: „Selbste“, welche vernachlässigt wurden (Gilligan bezeichnet sie als „shadow selves“ – ein Ausdruck, der Assoziationen an den Jung´schen Begriff des „Schattens“ weckt, jenen Teil der Persönlichkeit also, von dem der Mensch besonders inständig wünscht, er gehöre nicht zu ihm, und den er gleichwohl für eine gelingende Individuation anerkennen und integrieren muß) müssen wieder wahrgenommen und respektiert werden, was dazu führt, daß ihre Kräfte der Gesamtpersönlichkeit wieder zufließen können. „Shadow selves“, so unangenehm sie erscheinen mögen, haben eine den Menschen fördern wollende Intention, sie sind im Grunde wesentlicher Bestandteil der Person, denen aber der Respekt versagt blieb.

Anders als mit unseren „Selbsten“ verhält es sich mit sogenanten „aliens“. Sie stammen, wie der Name bereits andeutet, nicht aus der Person selbst, sondern stießen von außen her als etwas Fremdes in sie hinein oder wurden ihr implantiert. Unter „aliens“ kann man sich harmlosere Dinge vorstellen wie etwa Werbebotschaften, welche einem implantierten Bedürfnis entsprechen. Aber auch Entsetzliches wie die Aufforderung, alle, die eine andere Hautfarbe haben als ich, zu hassen, kann ein „alien“ sein. Dabei spielt es im übrigen keine Rolle, wie stark ich mich im Nachhinein mit dem „alien“ identifiziere – ich kann ja sehr wohl dahin gelangen, daß ich vollkommen überzeugt bin, ohne eine bestimmte Whisky-Marke nicht mehr glücklich sein zu können. Doch keine noch so starke Irritation macht den „alien“ wirklich zu etwas, was „Ich“ wäre – er ist und bleibt etwas von außen Kommendes, dessen Zielrichtung nicht die ist, mich zu fördern, sondern meine Möglichkeiten einzudämmen und so meine Lebenskraft zu schwächen. Infolgedessen besteht ihn betreffend das Therapieziel auch nicht im Integrieren, sondern im Externalisieren, einer Art psychischem Rausschmiß, der die Folge der Erkenntnis ist, der „alien“ gehöre nicht in mich hinein und behindere mich in meiner Entfaltung.

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